Dokumentarfilm
16 mm, s/w, Magnetton, 47' 47" (bei 24 B/s)
Sprache: Züritüütsch
Drehorte: Ebertswil, Zürich, Birmensdorf.
Dreh: Sommer 1980, Fertigstellung Juni 1982
Digitale Fassung in Vorbereitung

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Leben mit Corinne

Corinne ist zum Zeitpunkt der Aufnahme dreieinviertel Jahre alt. Mit Eva (12 Jahre) und Adrian (9 Jahre) unternimmt sie gemeinsame Streifzüge in Wald und Feld. Die Kamera beobachtet sie dabei: Kinder unter sich. Was sie spielen, wie sie miteinander sprechen, wie sie sich verständigen. Kinder verschiedenen Alters. Wie sie sich gegenseitig anregen. Nicht nur die älteren das jüngere. Durchaus auch das jüngere die älteren. Jedes trägt auf seine Weise zum gemeinsamen Leben bei.
Da ist die gewaltige Hutsammlung der Urgrossmutter und was die drei mit ihr anfangen. Da der Spruch «Wänn din Bueb mim Bueb nomal seit Bueb…», der beim Picnic zu intensiven philosophischen Gedankengängen Anlass gibt. Oder ein Gespräch mit Verständigungsschwierigkeiten beim Pfirsichessen. Ein Besuch im Kunsthaus und die Liebe zu Giaccomettis Hund. Wähebacken mit Grosi («Das git mer en schön en grusige Chueche!»).
Zufällige dokumentarische Beobachtungen. Gemeinsam ist ihnen dies: echtes Leben. Ein Film über drei Kinder und die Erwachsenen um sie herum. Ein Versuch, das Zusammenleben mit Kindern zu dokumentieren. Insbesondere die Aspekte, welche dieses Zusammenleben zu einem erfüllten machen und den Eltern die Kraft geben, die Schwerarbeit des Alltags leisten zu können.

Der Film lief Juni 1983 im Schweizer Fernsehen.

 

Team
Buch, Regie, Kamera, Schnitt, Produktion: Hans Peter Scheier. Mitarbeit: Ruth Scheier.
Kinder: Eva und Adrian Höhn, Corinne Scheier.
Musik: Helmut Steinkraus. Flöte: Michael Klein. Gitarre: Susanne Burtscher. Ton: René Scheier. Tonassistenz: Heiner Wezel.
Kameraassistenz: Martin Zehender. Licht: Paul Prylinski.
Skript: Susanne Burtscher.
Verpflegung der Equipe: Martha «Grosi» Scheier. Unterstützung: Kunsthaus Zürich.
Labor: Egli Film & Video AG, Zürich.
Titelarbeiten: Schwarz Filmtechnik GmbH, Ostermundigen. Mischung: Tonstudio Riet, Zollikon.
Aufnahmegeräte: Arri 16 BLEQ, Nagra lV.2. Negativmaterial: Kodak Double-X Neg. 7222.

Ziel des Films

Die folgenden Gedanken sind für Leser gedacht, die sich für den pädagogischen Hintergrund der Filmreihe interessieren. Sie sind keinesfalls belehrend gemeint. Sie geben ausschliesslich die Erfahrungen der Autoren wieder.
«Nur durch innere Geborgenheit wird der Mensch wirklich frei». Diese Aussage des Schweizer Pädagogen und Philosophen Marcel Müller-Wieland scheint mir ein zentrales Problem unserer Zeit zu umschreiben: Es ist unendlich schwierig, unter unseren heutigen gesellschaftlichen Bedingungen Kindern Geborgenheit zu vermitteln. Wir Eltern stehen selber in einer Situation allseltiger Konkurrenz und Entfremdung. Wir sind einer doppelten Belastung ausgesetzt: der des Berufs und der durch die Kinder. Gerade letztere ist nicht zu unterschätzen. Sie bringt viele Eltem schon rein physisch an den Rand ihrer Kräfte (z.B. wenn Kinder wochen- und monatelang nicht durchschlafen).
Und doch: Immer wieder, wenn es für Augenblicke gelingt, die eigene Belastung zu übersteigen, kann man erleben, was für positive, lebenserhaltende Kräfte die Stimmung echter Geborgenheit freisetzt.
Wer sich in seinem Leben, in seinem personellen Umfeld, in der Natur geborgen fühlt, wird frei zu geistiger Zuwendung, zum «reinen Bezug», wie Rilke sie nannte.
Unser Film stellt den Versuch dar, mittels dokumentarischer Aufnahmen den Zusammenhang von Geborgenheit und geistiger Freiheit erlebbar zu machen, ohne die beteiligten Menschen in ihrer Individualität zu vergewaltigen oder die Aufnahmen im Sinn eines bestimmten Konzepts zu kommentieren und zu verwenden. Wir haben deshalb auf jeden interpretierenden Kommentar verzichtet.
Es ist wichtig zu wissen, dass auch dieser zweite Film der Corinne-Reihe nicht die gesamte Problematik des «Kinderhabens oder Kindseins heute» behandelt. Das wäre eine Überforderung. Er will nur dies: Anstösse geben zu einem vertieften Gespräch über das wichtigste Grundbedürfnis des Menschen, die innere Geborgenheit. Sein Ziel wäre erreicht, wenn neue Lösungen für die Konflikte zwischen gesellschaftlichen Forderungen und wesentlichen menschlichen Bedürfnissen gefunden würden. Ohne Zweifel können diese Probleme nicht wie bis anhin den Eltern allein zur Lösung überbunden bleiben. Jedermann ist zur Mithilfe aufgerufen, ja verpflichtet: Denn die Lebensqualität in einer Gesellschaft hängt mit von der Qualität der inneren Kultur des Einzelnen ab. Nur geistige Gemeinschaftskräfte können der fortschreitenden Technisierung und Anonymisierung der gesellschaftlichen Beziehungen erfolgreich entgegenwirken.

Die Tricksequenz

Am Vorabend von R.s Geburtstag (im Dezember 1980) entschloss sich Corinne, ihr ein Bild zu malen. Sie holte sich Wasserfarben und einen Malblock im Format A3.
Als Thema wählte sie «zwei Kinder, die über die Strasse zur Schule gehen».
Erst malte sie den Jungen rechts. Dann die Sonne, den Regenbogen, das Wasser und den Wirbel. Zum Schluss noch das Mädchen, das seinen Arm um die Schulter des Jungen legt.
Sie verwendete vor allem die Farben Blau und Grün, und für die Sonne Gelb.
Ich schlug Corinne vor, die Zeichnung im beschriebenen Zustand zu belassen. Doch sie arbeitete weiter: Es entstand noch eine Katze, ein grosser blauer Teich, mehrere lockere Kreise um die beiden Kinder herum. Dann stürzte das Wassergefäss um und bespritzte einen Teil des Blattes. Die Sonne wurde übermalt, bis sie nur noch ein gelber Fleck war. Schliesslich folgte in der rechten unteren Ecke ein gelber «Text» aus mehreren umrahmten Zeilen.
Für die Verwendung im Film musste ich mich allerdings auf die Formen beschränken, die in der Strichumsetzung (reines Schwarz/weiss) noch verständlich sind. Dafür gibt die Tricksequenz Corinnes Malrhythmus und die Reihenfolge der einzelnen Striche möglichst authentisch wieder.

Geborgenheit und geistige Freiheit

Alles Lebendige ist individuiert. Jedes Wesen muss primär sein Leben und seine Art erhalten. Auch der Mensch ist vor allem ein Durchsetzungswesen: Schon der Atem bedeutet ein ständiges Verbrennen
anderer Wesen, Essen ist immer Zerstören anderen Lebens, auch wenn es «nur» pflanzliches wäre. Sexualität ist reine Durchsetzung. Wir müssen die Durchsetzung als Hauptmotiv unseres Lebens akzeptieren.

Aber gleichzeitig ist im Menschen eine Kraft angelegt, die diese Durchsetzungstendenz übersteigt: das Geistige. Die Fähigkeit, für Augenblicke die eigene Not, Angst oder Begierde fallen zu lassen zugunsten einer gleichzeitig wesentlichen und liebevollen Wahrnehmung des andern. Darin ist alles Wirkliche eingeschlossen: Kein hochstehendes Kunstwerk ist für diese Zuwendung nötig: Jedes dürre Blatt auf dem Asphalt, jedes bisschen Licht an einer Mauer, jeder Mensch, jedes Tier können Anlass dazu sein. Je nach Tiefe der Verwandtschaft und je nach innerer Reife des Menschen.
Der geistige Akt ermöglicht ein Verstehen des Begegnenden in seiner Individualität, in seinen Motiven. Er ist möglich, weil letztlich alles Wirkliche einen gemeinsamen Ursprung hat: Syngeneia (Platon). Der Mensch erlebt das Gelingen geistiger Zuwendung als stille innere Auflichtung, als Stimmung der Geborgenheit. Sie festigt sich im Verlauf lebenslanger Übung. Diese Übung kann nur durch wesentliche Erziehung in Gang gebracht werden.

Geistigkeit ist die kulturschaffende Kraft schlechthin. Sie steht dem zivilisatorischen Bereich, dem Ausüben von Macht, diametral gegenüber. Bildung in diesem Sinn hat nichts mit Ausbildung oder Wissen zu tun. Sie ist eine innere Einstellung zum Leben als Ganzem. Echte Bildung übersteigt die Angst vor Krankheit und Tod. Sie führt durch Bescheidung zu stiller Tapferkeit und sozialer Opferbereitschaft in einer scheinbar absurden Existenz.
Nicht jeder Mensch ist gleich. Jeder muss seine eigene Weise der geistigen Zuwendungskraft finden und üben. Der Erzieher muss lernen zu verstehen, welches der Weg jedes Einzelnen ist. Nur so kann er ihm helfen, sein Leben erfüllt zu bestehen. Dabei nützen ihm weder Erziehungstheorien, noch ein vorgegebener Schulstoff, noch besitzergreifende Liebe, noch ein tradiertes Menschenbild, sondern allein eine prinzipielle Offenheit und tiefe Lebenserfahrung.

Nebenstehende Bildreihe aus dem Film zeigt Corinnes Aufleuchten über irgendein kleines Wesen, das sie beobachtet. Die Bilder könnten als «bloss herzig» abgetan werden. Eine solche Haltung einem Kind gegenüber aber würde die Chance echter Geistigkeit im frühesten Keim ersticken oder verwahrlosen lassen. Jeder Mensch bringt die physiologischen Voraussetzungen des Geistigen mit sich. Aber er kann sie nur aktivieren mit Hilfe von aussen, durch das Erleben der geistigen Ansprechbarkeit des Erziehers.
Den Menschen in diesem Sinn auf seinen Weg zu bringen (nicht auf den des Erziehenden), scheint mir gerade heute eine bedeutende und faszinierende Aufgabe.

Vergleiche hierzu: Marcel Müller-Wieland, «Der innere Weg. Mut zur Erziehung». Pro Juventute Verlag, Zürich, Sommer 1982.