Geistige Liebe
Johann Heinrich Pestalozzi nannte als Bildungsziel die «sehende Liebe» – im Gegensatz zur blinden Liebe.
Marcel Müller-Wieland nennt das Ziel der Bildung «geistige Liebe».
Beide meinen eine Haltung, die sich dem begegnenden Menschen und der gesamten Wirklichkeit öffnet im Bestreben zu verstehen und liebevoll teilzunehmen, ohne dabei etwas für sich zu wollen.
Die Tragik allen Lebens ist, dass sich jedes Wesen gegen andere durchsetzen muss, um sich zu erhalten und seine Existenz zu sichern. Schon die Ernährung zerstört anderes Leben. Der Mensch ist ein äusserst durchsetzungsstarkes Wesen.
Umso wichtiger ist es, die geistigen Kräfte, die Gemeinschaftskräfte von früh auf zu fördern. Der Mensch bleibt auch dann ein Durchsetzungswesen. Aber wenn er zu diesem geistigen Überstieg fähig ist, verändert sich etwas: Er übernimmt Verantwortung für das Ganze und für sein Handeln. Ich würde das eine im weitesten Sinn grüne Pädagogik nennen.
Mehr darüber – und viel präziser – finden Sie im Buch.
Das Buch
Ich habe während über 40 Jahren mit Marcel Müller-Wieland zusammengearbeitet. Zusätzlich zu den Dokumentarfilmen habe ich mehrere seiner Klassenprojekte fotografisch dokumentiert. Diese Arbeiten nehmen einen grossen Raum im Buch ein. Ich habe versucht, alle beteiligten Kinder jeder Klasse zu zeigen, um klarzumachen, dass Marcel Müller-Wielands Arbeitsweise alle anspricht und ermutigt.
In einem grossen Kapitel veröffentliche ich Skizzen und Zeichnungen von Marcel Müller-Wieland. Sie machen seine Art zu sehen transparent.
Einige sorgfältig ausgewählte Texte beschreiben seine individualisierende und gemeinschaftsbildende Pädagogik in seiner eigenen Sprache.
Und dann habe ich noch Kinderzeichnungen ins Buch integriert, die heiter und ein bisschen anarchisch die Ausdrucks- und Gestaltungskraft von Kindern einbeziehen.
Statements (Schweizer Dialekt)
Wenn ich das Buch anschaue und darin lese, fällt mir vor allem auf, dass es überaus liebevoll und sorgfältig gemacht worden ist und dass es einen sehr reizvollen Mix von verschiedenen Elementen enthält: Einerseits theoretische pädagogisch-philosophische Texte von Marcel Müller-Wieland und andererseits viele schöne Schwarz-weiss-Fotos von Hans Peter Scheier. Auflockernd wirkt, dass es zudem viele Zeichnungen von Marcel Müller-Wieland enthält, denen man anmerkt, dass er nicht nur ein grandioser Pädagoge war, sondern auch ein Künstler. Seine Zeichnungen sind schöne, eindrückliche Skizzen aus Rumänien, wo er aufgewachsen ist. Im Buch gibt es aber auch neckische Zeichnungen der beiden kleinen Töchter von Hans Peter Scheier. Das alles kombiniert, ergibt einen Mix, den man gerne liest.
Mir bleibt von Marcel Müller, dass er ein liebevoller, geduldiger Pädagoge war, der einen extrem guten Draht zu Kindern hatte, der seine Pädagogik reflektierte, entsprechend Texte und Bücher darüber schrieb und im Lehrerseminar zudem versuchte, dies alles seinen Schülern, den angehenden Lehrern, weiterzugeben.
Er hat sich eingesetzt für eine individualisierende Pädagogik, die auf das Wesen des einzelnen Kindes und seine Bedürfnisse eingeht und nicht einfach versucht, einen Lehrplan durchzupeitschen. Das Individualisierende ist bei ihm eindrücklich, aber im Gegensatz zur antiautoritären Erziehung, die in den sechziger, siebziger Jahren auch zur Diskussion stand, zielt er nicht nur auf das Individuum, auf das einzelne Kind, sondern er versucht ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem einzelnen Kind und der Gemeinschaft. Seine Pädagogik ist also durchaus auch gemeinschaftsbildend und gemeinschaftsfördernd.
Was ich von Marcel Müller-Wieland im Buch spüre, berührt mich wegen seiner Haltung dem Kind gegenüber. Ich spüre da ein grosses Vertrauen in die schöpferischen Kräfte, die in jedem Kind stecken. Also das Ernstnehmen des Kindes und der Kräfte in ihm. Aber es überzeugt mich auch als Methode, wie er umgeht mit den Kindern. Zum Beispiel im Rahmen eines Schultheaterprojekts.
Ich denke, Marcel Müller-Wieland war eine überragende Persönlichkeit und ich bedaure, dass ich ihn nie persönlich kennengelernt habe. Obwohl ich in den siebziger Jahren auch ein Lehrerseminar absolviert habe, im Aargau, habe ich nie von ihm gehört. Das befremdet mich heute sehr.
Das Engagement der Lehrpersonen wird jeden Tag wieder zunichte gemacht, weil man frontal unterrichten muss. –
Die Schule, die Marcel Müller-Wieland vorschlägt, ist zukunftsfähig. Der Wettbewerb ist weitgehend ausgeschaltet. Ich habe gesehen, dass die Kinder freundlicher sind zueinander, die Atmosphäre im Schulzimmer ist sehr entspannt, und die Kinder lernen viel motivierter.
Marcel hatte eine unnachahmliche Art, zu sprechen und mit Menschen umzugehen, eine charismatische Freundlichkeit, die sehr speziell war.
Ich habe Marcel Müller-Wieland mit 21 Jahren am Lehrer-Seminar in Zürich kennengelernt, also zu einem Zeitpunkt, wo nach dem Gymnasium und der Matura die Frage im Raum stand, in welche Richtung es jetzt für mich beruflich, aber auch menschlich gehen soll. Und da war die Begegnung mit Marcel Müller-Wieland ganz wesentlich und prägend für meine weitere berufliche und menschliche Entwicklung.
Ich habe dann Psychologie studiert mit Schwerpunkt Klinische Psychologie und später die Ausbildung zum Psychotherapeuten absolviert, bin aber meiner ursprünglichen beruflichen Ausrichtung, der Pädagogik, treu geblieben und habe auch als Psychotherapeut mit Kindern, Jugendlichen und Familien gearbeitet. In dieser Arbeit konnte ich idealerweise verwirklichen, was Marcel Müller-Wieland mir vermittelt hat und was ich bei ihm gelernt habe: ganz individuell auf das einzelne Kind eingehen und Raum schaffen, damit es sich entfalten kann. Er selbst hat das auf geradezu ideale Weise gemacht. Ich denke, er hatte eine besondere Begabung dafür. In der praktischen Arbeit mit Kindern im Schulalltag habe ich erlebt, wie er seine Idee von einer zeitgemässen Schule im Theaterspiel mit einer Schulklasse umgesetzt hat, wo er dafür besorgt war, dass jedes Kind seinen Raum, seinen Ort findet, wo es sich entfalten kann, sei es, dass es in dem Theaterstück eine auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Rolle findet, sei es, dass es beim Kreieren und Realisieren des Bühnenbildes tätig wird, oder dass es musiziert, wenn es hier seine besondere Begabung hat.
Ich bin davon überzeugt, dass jedes Kind seine besondere Begabung hat. Leider ist der Fächerkanon unserer Volksschule und die Gewichtung der einzelnen Fächer so eng und einseitig, dass viele Kinder gar nicht zur Geltung kommen, ihre Ressourcen überhaupt nicht ausschöpfen können. Marcel Müller hat es geschafft, mit seiner Arbeit, mit dem Theaterspiel etwa oder mit schulischen Projekten wie dem Projekt «Flächen», wo es darum ging, das Phänomen und die Faszination von Flächen zu ergründen, jedem Kind einen Raum zu öffnen, wo es sich mit seiner besonderen Begabung zeigen kann. Das war auch ein zentrales Anliegen in meiner Arbeit als Psychotherapeut, jedem Kind diesen Raum anzubieten, einen geschützten Raum in der Therapie im Gegensatz zum offenen Raum in der Familie, Schule und Gesellschaft, wo sich das Kind unverstellt und spontan so zeigen kann, wie es ist und wie es sich gerade fühlt, was in der therapeutischen Arbeit natürlich einfacher ist als in der Arbeit mit einer Schulklasse, weil das Kind in der Regel ja allein in die Therapie kommt.
Inzwischen sind viele Erkenntnisse über die pädagogische Arbeit mit Kindern, die Marcel Müller-Wieland vermittelt und selbst im schulischen Alltag umgesetzt hat, durch die wissenschaftliche Forschung der Neurologie bestätigt worden. Die Neurologen sagen, dass für das Selbstvertrauen der Kinder, also dafür, dass sie sich etwas zutrauen, offen und neugierig für Neues sind, und für ihre Motivation, etwas Neues zu lernen, drei wesentliche Dinge von Bedeutung sind. Es sind genau die Dinge, die im Wirken von Marcel Müller-Wieland zentral waren.
Das erste ist, dass ein Kind als das wahrgenommen wird, was es ist, ein Kind, und zwar unabhängig davon, was es kann oder was es leistet, das ist unwichtig, nicht wesentlich. Förderlich und vielleicht das Wichtigste überhaupt für die Entwicklung des Kindes ist, dass es als Individuum mit seinen persönlichen Bedürfnissen wahrgenommen wird. Das ist etwas, was bei Marcel Müller-Wieland in der Begegnung mit den Kindern in jedem Augenblick spürbar war, diese Empathie, menschliche Wärme und geistige Liebe, die das Kind als Mensch meint.
Das zweite ist Wertschätzung, Anerkennung für das, was das Kind kann, was es nach seinen Möglichkeiten leistet, dass es dort wahrgenommen und wertgeschätzt wird, wo es seine besondere Begabung hat. Auch das ist besonders wichtig und etwas, was Marcel Müller-Wieland den Kindern in der Arbeit und in der persönlichen Begegnung im schulischen Alltag stets vermittelt hat.
Und das dritte ist, sozial dazuzugehören, ein Teil der Gruppe zu sein, sei es in der Familie, sei es in der Schule oder im Verein im Rahmen von Freizeitaktivitäten. Die soziale Integration der Kinder ist aus der Sicht von Marcel Müller-Wieland eine zentrale Aufgabe der Schule. Neben der Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten ist die Gemeinschaftsbildung die wichtigste Aufgabe der Schule überhaupt und eine notwendige Ergänzung zur Individualisierung des Unterrichts, um in der Entwicklung der Kinder ein Gleichgewicht dieser divergierenden Kräfte zu erreichen. Leider habe ich in meiner therapeutischen Arbeit immer wieder Kinder erlebt, die nicht dazu gehörten, aktiv ausgeschlossen und nicht selten richtig gemobbt wurden. Noch immer wird dieses Problem von vielen Lehrern und Schulen, aber auch von Eltern nicht ernst genug genommen, bagatellisiert oder sogar verdrängt.
Die seelischen Auswirkungen des Ausgegrenzt- und Ausgeschlossenseins sind für die betreffenden Kinder, oft bis ins Erwachsenenleben hinein, verheerend.
Diese drei Dinge sind absolut zentral und wichtig für die Entwicklung der Kinder, für ihr Selbstvertrauen und ihre Motivation, etwas zu lernen. Ich denke, dass hier in den Schulen und in den Familien noch viel Arbeit zu leisten ist. Ich hatte das Glück, dass ich in meiner Arbeit, wie ich es bei Marcel Müller-Wieland erlebt habe, die Eltern unterstützen und begleiten und ihnen Mut machen konnte, dass sie geduldig sind, an ihr Kind glauben und sehen, was es für Potential hat. Es ist eine wunderbare Arbeit, die ich machen konnte, und was mich immer wieder fasziniert hat in der Begegnung mit den Kindern, sei es als Lehrer oder als Psychotherapeut, aber auch als Vater, ist, wie jedes Kind, für sich einen eigenen Weg sucht, mit den Herausforderungen des Lebens, die sich ihm stellen, fertig zu werden. Es ist beeindruckend, mit welcher Kreativität die Kinder nach Lösungen suchen. Ich habe immer darauf vertraut, dass das Kind die Lösung, die es weiter bringt, weiss, in sich selbst trägt.
Das war für mich das Wesentliche überhaupt in der Arbeit und in der Begegnung mit Kindern: Dasein, neue Erfahrungen anregen, was es dem Kind ermöglicht, sich weiter zu entwickeln, denn Entwicklung ist der zentrale Motor des Lebens, im Kindesalter besonders, aber auch lebenslang. Marcel Müller-Wieland hat mir für diese Arbeit die nötigen Instrumente und Werkezeuge in die Hand gegeben, wofür ich ihm dankbar und sehr verbunden bin.
Es ist auch für kurzes Schmökern während der Wartezeit geeignet. Es ist ein Gewinn auch für das Wartzimmer des Arztes und Kinderarztes, gleichermassen tiefgründig, unterhaltend und bereichernd.
Andreas Tschumi, pensionierter Kinderarzt